Gedenken zum 09.11.2022 in Großröhrsdorf

„Das höchste Glück des Menschen ist die Befreiung von der Furcht.“ (Walther Rathenau)

Auch in diesem Jahr luden Pfarrer i. R. Norbert Littig und Bürgermeister Stefan Schneider für Mittwoch, den 9. November um 11:30 Uhr zur stillen Besinnung anlässlich der Reichspogromnacht vor 84 Jahren an den Gedenkstein der Familie Schönwald an der Ecke Bankstraße / Bandweberstraße ein.

Das Ehepaar Curt und Regina Schönwald kam 1912 von Berlin nach Großröhrsdorf und führte hier ab 1928 das größte Textilwarenhaus im Rödertal. In der berüchtigten „Kristallnacht“ vom 9. zum 10. November zerstörte eine kleine Gruppe aufgehetzter Nationalsozialisten die Schaufenster des Kaufhauses. Nach einer zweiwöchigen Inhaftierung im KZ Buchenwald musste Curt Schönwald das Geschäft unter dem wirklichen Verkaufswert zwangsverkaufen. Die Familie Schönwald zog nach Berlin. Ihr Sohn erhielt ein Ausreisevisum für die USA im März 1939, die verheiratete Tochter Suse emigrierte nach Süd-Rhodesien. Allein Curt und Regina Schönwald gelang es nicht, trotz intensiver Bemühungen seitens ihres Sohnes Heinz, ein rettendes Visum in die USA zu erhalten. Sie wurden im März 1942 deportiert.

Das schreckliche Schicksal der Familie Schönwald ist nur ein Beispiel für die unzähligen Gräueltaten, die der „Kristallnacht“ am 9. November 1938 folgten. Umso wichtiger ist es, die geschichtlichen Ereignisse zur bewahren und ihre verheerenden Auswirkungen auch den folgenden Generationen zu verdeutlichen. Unsere Verantwortung ist es, solche Verachtung, Verfolgung und Vernichtung von Menschen nie mehr zuzulassen.

Pfarrer i. R. Littig ging in seiner Rede auf einen Mann ein, dessen Leben große Parallelen zum Leben von Kurt Schönwald aufweist: Walther Rathenau.
Beide wurden in Berlin geboren: Walther Rathenau 1867, 13 Jahre später Kurt Schönwald. Beide waren Deutsche jüdischen Glaubens. Doch die Religion spielte für beide fast keine Rolle; sie waren so säkular, dass sie keine jüdischen Feste feierten. Beide fühlten sich bewusst als Deutsche, die sich für ihr Vaterland und das Gemeinwohl engagierten.
Beide starben einen gewaltsamen Tod, weil andere Menschen ihnen die Würde zum Menschsein in Gedanken aberkannten. Walther Rathenau wurde vor genau 100 Jahren heimtückisch erschossen; Kurt Schönwald wurde vor genau 80 Jahren in einem Vernichtungslager brutal ermordet.
Wer war der Mann, der seine Herkunft und seine Furchtlosigkeit mit dem Leben bezahlte? Walther Rathenau war von der Herkunft her Jude, was er aber zeitlebens als eine Belastung angesehen hat. Er wurde in Berlin als Sohn des jüdischen Industriellen Emil Rathenau, dem Gründer der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft (AEG), geboren. Nach dem Studium der Physik, Chemie und Philosophie betätigte er sich in der Wirtschaft und zunehmend in der Politik. 1897 veröffentlichte er seine Erstschrift „Höre Israel!“, in der er die jüdische Bevölkerung zur Assimilation aufforderte. Er war „Jude wider Willen“. Als Erwachsener hat er eine Synagoge kaum noch betreten. Eine Scheinkonversation zum Christentum über die Taufe lehnte er ab.
Walther Rathenau war nach dem 1. Weltkrieg neben Albert Einstein Mitbegründer der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Als Wirtschaftssachverständiger arbeitete er in der Reichsregierung. Am 01.02.1922 wurde er Reichsaußenminister. Albert Einstein hatte ihm von diesem Amt abgeraten. Er befürchtete negative Auswirkungen für die jüdische Gemeinde, wenn jüdischen Politikern unpopuläre Maßnahmen angekreidet werden. Höhepunkt war sein Abschluss des Rapallo-Vertrages, einer nach Russland orientierten deutschen Aussöhnungspolitik.
Deutschland und die Sowjetunion verzichteten beiderseits auf die Erstattung der Kriegskosten. Rathenaus Gedanken gingen weit in die Zukunft mit Überlegungen zu einer europäischen Wirtschaftspolitik.
Der fähige Politiker wurde in unverschämter Weise von der rechten Presse mit antisemitischen Parolen attackiert. Walther Rathenau wurde am 24. Juni 1922 von zwei jungen Offizieren ermordet, die der rechtsradikalen „Organisation Consul“ angehörten. Einer der beiden Attentäter wurde von der Polizei erschossen, der andere tötete sich selbst. Ein Dritter in den Anschlag Verwickelter wurde zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Der Mord an dem linksliberalen Minister wurde mit Recht als Anschlag auf die Weimarer Republik empfunden. In vielen deutschen Städten kam es zu spontanen Protestdemonstrationen.
In Berlin gingen mehr als 400.000 Menschen auf die Straße gegen das feige Attentat und für den Bestand der Demokratie in der Weimarer Republik. Auch hier im Rödertal soll es Aktionen in diese Richtung gegeben haben, was sich schließlich in dem genehmigten Antrag zur Straßenbenennung konkretisierte. 1924 erhielt Großröhrsdorf das Stadtrecht. Zu diesem Anlass wurde eine Straße im Stadtzentrum nach dem zwei Jahre zuvor ermordeten Außenminister benannt.
Doch bereits neun Jahre später zog auch hier ein neues, ein furchtbares menschenverachtendes Denken ein. 1933 wurde diese Straße in „Horst-Wessel-Straße“ umbenannt. Nach dem 2. Weltkrieg erhielt die Straße wieder ihren alten Namen.
Heute soll dieser Name uns mahnen, verbale Hassbekundungen nicht einfach zu überhören und hinzunehmen, denn sie sind die Vorstufe zu feigen Mordanschlägen. Und niemals kann und darf die Religion oder die Herkunft eines Menschen zur Rechtfertigung für Ausgrenzung und Unmenschlichkeit dienen. – Walther Rathenau und Kurt Schönwald, zwei Opfer eines verkehrten Denkens.
Im Anschluss legten alle Anwesenden mit der stellvertretenden Bürgermeisterin Monika Maßwig und Pfarrer i. R. Norbert Littig eine weiße Rose und eine weiße Lillie sowie Kieselsteine am Gedenkstein der Familie Schönwald nieder.

Stellvertretende Bürgermeisterin Monika Maßwig und Pfarrer i.R. Norbert Littig legen Blumen am Gedenkstein der Familie Schönwald nieder.zoom
Stellvertretende Bürgermeisterin Monika Maßwig und Pfarrer i.R. Norbert Littig legen Blumen am Gedenkstein der Familie Schönwald nieder.

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