„Das höchste Glück des Menschen ist die Befreiung von der Furcht.“ (Walther Rathenau)
Auch in diesem Jahr luden Pfarrer i. R. Norbert Littig und
Bürgermeister Stefan Schneider für Mittwoch, den 9. November um 11:30 Uhr zur
stillen Besinnung anlässlich der Reichspogromnacht vor 84 Jahren an den
Gedenkstein der Familie Schönwald an der Ecke Bankstraße / Bandweberstraße ein.
Das Ehepaar Curt und Regina Schönwald kam 1912 von Berlin
nach Großröhrsdorf und führte hier ab 1928 das größte Textilwarenhaus im
Rödertal. In der berüchtigten „Kristallnacht“ vom 9. zum 10. November zerstörte
eine kleine Gruppe aufgehetzter Nationalsozialisten die Schaufenster des
Kaufhauses. Nach einer zweiwöchigen Inhaftierung im KZ Buchenwald musste Curt
Schönwald das Geschäft unter dem wirklichen Verkaufswert zwangsverkaufen. Die
Familie Schönwald zog nach Berlin. Ihr Sohn erhielt ein Ausreisevisum für die
USA im März 1939, die verheiratete Tochter Suse emigrierte nach Süd-Rhodesien.
Allein Curt und Regina Schönwald gelang es nicht, trotz intensiver Bemühungen
seitens ihres Sohnes Heinz, ein rettendes Visum in die USA zu erhalten. Sie
wurden im März 1942 deportiert.
Das schreckliche Schicksal der Familie Schönwald ist nur
ein Beispiel für die unzähligen Gräueltaten, die der „Kristallnacht“ am 9.
November 1938 folgten. Umso wichtiger ist es, die geschichtlichen Ereignisse
zur bewahren und ihre verheerenden Auswirkungen auch den folgenden Generationen
zu verdeutlichen. Unsere Verantwortung ist es, solche Verachtung, Verfolgung
und Vernichtung von Menschen nie mehr zuzulassen.
Pfarrer i. R. Littig ging in seiner Rede auf einen Mann
ein, dessen Leben große Parallelen zum Leben von Kurt Schönwald aufweist: Walther
Rathenau.
Beide wurden in Berlin geboren: Walther
Rathenau 1867, 13 Jahre später Kurt Schönwald. Beide waren Deutsche jüdischen
Glaubens. Doch die Religion spielte für beide fast keine Rolle; sie waren so
säkular, dass sie keine jüdischen Feste feierten. Beide fühlten sich bewusst
als Deutsche, die sich für ihr Vaterland und das Gemeinwohl engagierten.
Beide starben einen gewaltsamen Tod, weil
andere Menschen ihnen die Würde zum Menschsein in Gedanken aberkannten. Walther
Rathenau wurde vor genau 100 Jahren heimtückisch erschossen; Kurt Schönwald
wurde vor genau 80 Jahren in einem Vernichtungslager brutal ermordet.
Wer war der Mann, der seine Herkunft und seine
Furchtlosigkeit mit dem Leben bezahlte? Walther Rathenau war von der Herkunft
her Jude, was er aber zeitlebens als eine Belastung angesehen hat. Er wurde in
Berlin als Sohn des jüdischen Industriellen Emil Rathenau, dem Gründer der Allgemeinen
Elektrizitätsgesellschaft (AEG), geboren. Nach dem Studium der Physik, Chemie
und Philosophie betätigte er sich in der Wirtschaft und zunehmend in der
Politik. 1897 veröffentlichte er seine Erstschrift „Höre Israel!“, in der er
die jüdische Bevölkerung zur Assimilation aufforderte. Er war „Jude wider
Willen“. Als Erwachsener hat er eine Synagoge kaum noch betreten. Eine
Scheinkonversation zum Christentum über die Taufe lehnte er ab.
Walther Rathenau war nach dem 1. Weltkrieg
neben Albert Einstein Mitbegründer der linksliberalen Deutschen Demokratischen
Partei (DDP). Als Wirtschaftssachverständiger arbeitete er in der
Reichsregierung. Am 01.02.1922 wurde er Reichsaußenminister. Albert Einstein
hatte ihm von diesem Amt abgeraten. Er befürchtete negative Auswirkungen für
die jüdische Gemeinde, wenn jüdischen Politikern unpopuläre Maßnahmen
angekreidet werden. Höhepunkt war sein Abschluss des Rapallo-Vertrages, einer
nach Russland orientierten deutschen Aussöhnungspolitik.
Deutschland und die Sowjetunion verzichteten
beiderseits auf die Erstattung der Kriegskosten. Rathenaus Gedanken gingen weit
in die Zukunft mit Überlegungen zu einer europäischen Wirtschaftspolitik.
Der fähige Politiker wurde in unverschämter
Weise von der rechten Presse mit antisemitischen Parolen attackiert. Walther
Rathenau wurde am 24. Juni 1922 von zwei jungen Offizieren ermordet, die der
rechtsradikalen „Organisation Consul“ angehörten. Einer der beiden Attentäter
wurde von der Polizei erschossen, der andere tötete sich selbst. Ein Dritter in
den Anschlag Verwickelter wurde zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Der Mord an dem linksliberalen Minister wurde
mit Recht als Anschlag auf die Weimarer Republik empfunden. In vielen deutschen
Städten kam es zu spontanen Protestdemonstrationen.
In Berlin gingen mehr als 400.000 Menschen auf
die Straße gegen das feige Attentat und für den Bestand der Demokratie in der
Weimarer Republik. Auch hier im Rödertal soll es Aktionen in diese Richtung
gegeben haben, was sich schließlich in dem genehmigten Antrag zur
Straßenbenennung konkretisierte. 1924 erhielt Großröhrsdorf das Stadtrecht. Zu
diesem Anlass wurde eine Straße im Stadtzentrum nach dem zwei Jahre zuvor
ermordeten Außenminister benannt.
Doch bereits neun Jahre später zog auch hier
ein neues, ein furchtbares menschenverachtendes Denken ein. 1933 wurde diese
Straße in „Horst-Wessel-Straße“ umbenannt. Nach dem 2. Weltkrieg erhielt die
Straße wieder ihren alten Namen.
Heute soll dieser Name uns mahnen, verbale Hassbekundungen
nicht einfach zu überhören und hinzunehmen, denn sie sind die Vorstufe zu
feigen Mordanschlägen. Und niemals kann und darf die Religion oder die Herkunft
eines Menschen zur Rechtfertigung für Ausgrenzung und Unmenschlichkeit dienen.
– Walther Rathenau und Kurt Schönwald, zwei Opfer eines verkehrten Denkens.
Im Anschluss legten alle Anwesenden mit der
stellvertretenden Bürgermeisterin Monika Maßwig und Pfarrer i. R. Norbert
Littig eine weiße Rose und eine weiße Lillie sowie Kieselsteine am Gedenkstein
der Familie Schönwald nieder.
Stadtverwaltung Großröhrsdorf Rathausplatz 1 01900 Großröhrsdorf