„Bereicherung und nicht Bedrohung – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ Ge(h)denken zum 09.11.2021 in Großröhrsdorf

Auch in diesem Jahr luden Pfarrer i. R. Norbert Littig und Bürgermeister Stefan Schneider für Dienstag, den 9. November um 11:30 Uhr zur stillen Besinnung anlässlich der Reichspogromnacht vor 83 Jahren an den Gedenkstein der Familie Schönwald an der Ecke Bankstraße / Bandweberstraße ein.

Bürgermeister Stefan Schneider mahnte in seiner Rede vor aktuell zunehmender Polarisierung. Diese führt zu immer mehr verbalem Aufrüsten und damit körperlichen Angriffen. Was sich unter anderem im steigenden Antisemitismus und Extremismus zeigt. Umso wichtiger ist es, die geschichtlichen Ereignisse zur bewahren und ihre verheerenden Auswirkungen auch den folgenden Generationen zu verdeutlichen. Aus diesem Grunde gedenken die Großröhrsdorfer Bürger in jedem Jahr dem schrecklichen Schicksal der Familie Schönwald, die das heutige Kaufhaus Brückner (ehemals Kaufhaus Schönwald) unterhielt. „Unsere Verantwortung ist es, solche Verachtung, Verfolgung und Vernichtung von Menschen nie mehr zuzulassen.“ forderte Bürgermeister Stefan Schneider.
Pfarrer i. R. Littig ging in seiner Rede auf den wirtschaftlichen und kulturellen Beitrag der Juden anlässlich 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland ein.
Im Jahr 321, also vor genau 1.700 Jahren, wurden durch den ersten christlichen Kaiser Konstantin in Rom zwei Gesetze erlassen, die bis heute ihre Wirkung haben: Der Sonntag wird staatlich geschützter Ruhetag und den Juden wird erstmals erlaubt, kommunale Ämter in der Stadt Köln zu übernehmen. Für Christen und Juden wurden damit Rahmenbedingungen geschaffen, ihre Identität frei zu entfalten. Beide Gruppen waren damals im römischen Reich religiöse Minderheiten. In den folgenden Jahrhunderten gewannen die Christen immer mehr an Einfluss. Alles Nichtchristliche wurde nach und nach aus dem gesellschaftlichen Leben verdrängt. Verbote, Diskriminierungen und Verfolgungen Andersgläubiger waren die negative Seite einer erfolgreichen christlichen Entwicklung. Doch Verbote und Verfolgungen sind nicht Ausdruck geistiger Stärke. Diese Einsicht wurde u. a. durch die Aufklärung im 18. Jahrhundert befördert. Im 19. Jahrhundert werden Juden in fast allen europäischen Staaten als absolut gleichberechtigte Bürger anerkannt. Damit erhalten sie Zugang zu Universitäten, und sie partizipieren an wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen.
Mit einem Bevölkerungsanteil von weniger als 1% trugen deutsche Juden ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts weit überdurchschnittlich viel zu wissenschaftlichem Fortschritt, kultureller Vielfalt und wirtschaftlichem Reichtum in Deutschland bei. Mit ihrem Einsatz im 1. Weltkrieg meinten sie, ihren patriotischen Nachweis erbracht zu haben.
Mit ein paar wenigen Beispielen verdeutlichte Norbert Littig, dass Juden eine enorme Bereicherung und keine Bedrohung für unser Land darstellten. Schriftsteller wie Heinrich Heine, Franz Kafka, Franz Werfel, Arnold Zweig, Thomas und Heinrich Mann bis hin zu Stefan Heym haben die deutsche Literatur nachhaltig beeinflusst. Kaum ein anderer trug die gesamte deutsche Literatur lebendig in sich wie der oft als „Literaturpapst“ bezeichnete jüdische Kritiker Marcel Reich-Ranicki“.
Die deutsche Musikgeschichte wurde ganz wesentlich bereichert durch die Klavierkonzerte von Felix-Mendelsohn-Bartholdy, sowie die Zwölftonmusik von Arnold Schönberg.
Produkte wie die Nivea-Creme, Leukoplast, Labello-Lippenpomade im Gewindestift und Tesa-Film sind Entwicklungen des jüdischen Hamburger Apothekers Dr. Oscar Troplowitz.
Unter dem Motto „Kaufen muss Freude machen“ gründeten jüdische Handelsleute die ersten Kaufhäuser im 19. Jahrhundert. Kaufhof (aus Tietz hervorgegangen), Wertheim, Schocken und Hertie bestimmten über 100 Jahre die deutsche Verkaufskultur vor allem in den Großstädten. Das berühmte KaDeWe wurde von einem aus ganz armen jüdischen Verhältnissen stammenden Mann namens Adolf Jandorf gegründet. Und auch in Großröhrsdorf führte die jüdische Kaufmannsfamilie Schönwald ein erfolgreiches Textilkaufhaus. Zum Bau des Massenei-Bades gab der hiesige Kaufmann Curt Schönwald einen wesentlichen Beitrag und gab damit seinen wirtschaftlichen Erfolg auch ein Stück wieder an die Gemeinschaft zurück.
Wussten Sie, dass Juden nur 0,2% der Weltbevölkerung ausmachen, aber 20% aller Nobelpreisträger jüdischer Herkunft sind?! Vor allem im Bereich der Naturwissenschaften und der Medizin leisteten Juden einen enormen Beitrag für das Gemeinwohl. Der Mediziner Paul Ehrlich begründete die Chemotherapie und legte die Grundlagen für die heutige Krebstherapie. Der Physiker Albert Einstein revolutionierte die klassische Physik und gilt bis heute als das wohl genialste Genie.
Auch politisch engagierten sich Juden am Beginn des 20. Jahrhunderts. Der prominenteste Politiker mit jüdischem Hintergrund der Weimarer Zeit war der Außenminister Walther Rathenau, nach dem auch eine Straße hier in Großröhrsdorf benannt ist. Er engagierte sich für Deutschlands Interessen nach dem 1. Weltkrieg durch Verhandlungen mit Frankreich und Russland.
„Juden waren und sind eine Bereicherung und keine Bedrohung für Deutschland. Eine Bedrohung für unser Land waren und sind die Antisemiten, die aus rassistischen Gründen jüdisches Engagement für das Gemeinwohl leugnen und zu verhindern suchen. Dem lasst uns in unser aller Interesse deutlich widersprechen“ so mahnte Pfarrer i. R. Norbert Littig zum Abschluss seiner Rede.
Im Anschluss legten alle Anwesenden mit Bürgermeister Stefan Schneider und Pfarrer i. R. Norbert Littig eine weiße Rose und eine weiße Lillie sowie Kieselsteine am Gedenkstein der Familie Schönwald nieder.

Reichspogromnacht, Gedenken, Schönwald
Gedenken, Schönwald, Reichspogrom

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