„Ein Recht auf Trauer“ – Ge(h)denken zum 09.11.2020 in Großröhrsdorf

2020 ist kein Jahr wie jedes andere - es ist aufgewühlter, bewegender, aber auch stiller als sonst. Viele Veranstaltungen und Aktionen mussten abgesagt werden. Pandemiebedingt fand die Gedenkveranstaltung anlässlich der Reichspogromnacht vor 82 Jahren am Montag, dem 9. November deshalb in diesem Jahr in einer reduzierten Form, dennoch mit besinnlicher Stimmung, statt.

In kleiner Runde gedachten Pfarrer i. R. Norbert Littig und Bürgermeister Stefan Schneider an dem Gedenkstein an der Ecke Bankstraße/Bandweberstraße der Familie Schönwald sowie den zahlreichen Opfern.

Stille Besinnungzoom

Der kleine Rahmen ließ nur wenig Platz für Worte und so mahnte Bürgermeister Stefan Schneider, dass gerade in der heutigen Zeit, wo extremistische Kräfte in Deutschland sowie im Ausland wieder zum Vorschein kommen, es umso wichtiger sei, die geschichtlichen Ereignisse zu bewahren und ihre verheerenden Auswirkungen auch den folgenden Generationen zu verdeutlichen. Aus diesem Grunde gedenken die Großröhrsdorfer Bürger in jedem Jahr dem schrecklichen Schicksal der Familie Schönwald, die das heutige Kaufhaus Brückner (ehemals Kaufhaus Schönwald) unterhielt. „Unsere Verantwortung ist es, solche Verachtung, Verfolgung und Vernichtung von Menschen nie mehr zuzulassen.“ forderte Bürgermeister Stefan Schneider.
Aus gegebenem Anlass fasste Pfarrer i. R. Littig seine Rede in diesem Jahr in einer Niederschrift zusammen, welche er vor dem Kirchgeläut 11.30 Uhr an die Gedenkenden verteilte.

Liebe gedenkende Mitbürger! Der 9. November ist ein Trauertag: Wir gedenken in Scham und Trauer der unzähligen jüdischen Menschen, die in der NS-Zeit durch eine zutiefst unmenschliche Ideologie entrechtet, vertrieben und ermordet wurden. Die Familie Schönwald aus Großröhrsdorf ist dafür ein Beispiel. Diese Trauer darf nicht aufhören. Sie hilft zur heilsamen Einsicht, dass Egoismus und Hass zur Quelle für massives Unrecht werden. Sie ermutigt den Trauernden, alles zu tun, um fanatischer Verblendung und blinder Gewaltanwendung zu widerstehen. 

In zeitlicher Nähe zum 9.11. steht der Volkstrauertag, an dem der Millionen Toten von zwei Weltkriegen gedacht wird. Vor allem erinnerte man sich nach dem 1. Weltkrieg der gefallenen Soldaten. Auch 12.000 Deutsche jüdischer Religionsangehörigkeit ließen ihr Leben für ihr Vaterland, u. a. der Schwager von Kurt Schönwald. Er selbst wurde im Kampf verwundet. Unzählige Kriegerdenkmäler entstanden, die Soldaten abbilden, die als „Helden“ verehrt wurden.

Zwei Künstler, ein jüdischer und ein christlicher Bildhauer, widersetzten sich diesem Heldenmythos: Benno Elkan und Johannes Born. Beide waren Schüler von dem berühmten französischen Künstler Auguste Rodin. Elkan schuf 1925 für Völklingen ein Denkmal, das im Gegensatz zu den sonst üblichen Denkmälern keinen Soldaten, sondern eine in sich vor Trauer gekrümmte Frau zeigt. Sie, die Frauen, sind die wirklichen Opfer des Krieges, da sie ohne Väter, Ehemänner und Söhne weiterleben mussten. Die Unterschrift „Allen Opfern“ weist darauf hin, dass eben nicht nur deutsche Frauen, sondern auch die auf der anderen Seite (Frankreich, Russland usw.) zu Opfern des Krieges wurden. Zehn Jahre später wurde dieses Denkmal von den Nationalsozialisten zerstört, weil es nicht dem deutsch-heldischen Charakter entsprach und weil ein Jude der Schöpfer war. Doch von diesem Denkmal gibt es eine Kopie, die der Künstler 1929 für Cunewalde im Kreis Bautzen angefertigt hat.

links: Benno Elkan Völklingen 1925 (Fotoarchiv Horst Kunkel) Mitte: Benno Elkan Cunewalde 1929 (Foto Irene Mütze) rechts: Johannes Ernst Born Pulsnitz 1929 (Foto N. Littig)zoom
links: Benno Elkan Völklingen 1925 (Fotoarchiv Horst Kunkel)
Mitte: Benno Elkan Cunewalde 1929 (Foto Irene Mütze)
rechts: Johannes Ernst Born Pulsnitz 1929 (Foto N. Littig)

Auch auf dem Friedhof in Pulsnitz befindet sich ein Kriegerdenkmal, das ebenfalls eine vor Trauer in sich gekrümmte Frau zeigt. Darunter steht „Unseren Helden“. Der Dresdner Bildhauer Johannes Born hat es 1929, also nur vier Jahre nach der Statue in Völklingen geschaffen. In einigen Details unterscheiden sich beide Frauendarstellungen, doch vermitteln sie beide den gleichen Gesamteindruck: Die Frauen (!) sind die eigentlichen „Opfer“ (Elkan), ja sie sind die wirklichen „Helden“ (Born). So mahnen diese Denkmäler auch uns heute zum Widerspruch, wo Menschen diskriminiert werden und blinde Gewalt angewendet wird.

(Norbert Littig)


Im Anschluss legten alle Anwesenden mit Bürgermeister Stefan Schneider und Pfarrer i. R. Norbert Littig eine weiße Rose und eine weiße Lilie sowie Kieselsteine am Gedenkstein der Familie Schönwald nieder.

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Gedenkstein der Familie Schönwald

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